Ein Beitrag zur Energiekrise und einer nachhaltigen Ent-Wicklung

Gerald Hüther und Gerhard Luhn
Wenn wir aufhören, uns ständig weiter zu verwickeln, können wir auch endlich unser Potential entfalten.

Wir Menschen verfügen über ein zeitlebens lernfähiges Gehirn. Seine Nervenzellvernetzungen sind nicht von Anfang an festgelegt. Sie bilden sich erst durch die Erfahrungen heraus, die wir im Lauf unseres Lebens machen. Wir sind also alle Suchende, müssen gewissermaßen erst unterwegs herausfinden, worauf es für ein gelingendes Leben ankommt. Natürlich können wir uns auf dieser Suche auch verirren, als Einzelne, aber auch als ganze Gesellschaft. Beim Einzelnen treten solche Verirrungen als fragwürdige, bisweilen sogar menschenverachtende Vorstellungen zutage, als rücksichtslose und egozentische Überzeugungen, als zerstörerische, das friedliche Zusammenleben von Menschen untergrabende innere Einstellungen und Haltungen. Zu derartigen Verirrungen kommt es immer dann, wenn Menschen meist schon als Kinder und Jugendliche die schmerzhafte Erfahrung machen müssen, dass ihr tief in ihnen angelegtes Bedürfnis nach wahrhaftiger Verbundenheit, also nach bedingungsloser Liebe, nicht gestillt werden kann. Manche dieser Nichtgeliebten richten ihren Schmerz nach innen und können sich selbst immer weniger leiden, die anderen richten ihn nach außen und versuchen mit aller Macht, ihre eigenen Interessen auf Kosten anderer durchzusetzen. Beides ist lieblos. Beides macht unglücklich. Beides ist destruktiv und beides bringt all das hervor, was wir das „Böse“ nennen. Das Böse erwächst also aus dem Schmerz, den Menschen einander zufügen. Wer “böse“ behandelt worden ist, neigt dazu, andere „böse“ zu behandeln. Das Böse ist also ein ständiger Mitfahrer auf dem Karussell der Lieblosigkeit. Und das dreht sich von Generation zu Generation weiter und inzwischen auch immer schneller und menschenverachtender.

Und wenn Sie fragen: „Weshalb, lieber Gott – oder wer immer für diesen Wahnsinn verantwortlich ist und die Macht hat, ihn zu beenden – tust Du nichts?“ Dann lautet die  Antwort: „Weil nur Du selbst es abzustellen imstande bist. Das Böse existiert, damit ihr den Irrweg erkennt, auf den ihr geraten seid.“ Der Hirnforscher würde sagen: „Wir Menschen lernen aus den Fehlern, die wir machen. Wie sollen wir erkennen, dass wir auf einen Irrweg geraten sind, wenn es keine spürbar bösen Folgen hätte?“ Das Böse, das wir selbst hervorbringen, ist also unser bester Lehrmeister. Er zwingt uns, es künftig besser zu machen, unser eigenes Leben und unser Zusammenleben mit anderen, auch mit den anderen Lebewesen auf dieser Erde so zu gestalten, dass es für alle gut ist.

In diesem Beitrag beleuchten wir einen bisher wenig betrachteten Zusammenhang: die weitgehend unterschätzte Wirkmächtigkeit liebloser innerer Einstellungen und Überzeugungen, die den Energiebedarf und damit den Energieverbrauch von Menschen immer weiter erhöht. Das aus diesen Einstellungen erwachsende Erwartungshaltung führt auf globaler Ebene unausweichlich zu einem zunehmenden Wettbewerb um die noch vorhandenen, begrenzten fossilen Energieressourcen. Damit wächst die Bereitschaft, sogar die maximale Form des Energieverbrauchs zur Durchsetzung der jeweiligen eigenen Interessen einzusetzen: den Krieg.

  1. Wie und wobei verwickeln wir uns?
    Nach den Gesetzen der der Physik (hier speziell der Wärmelehre) streben sämtliche Energie-enthaltenden Strukturen und Systeme immer den Zustand einer maximalen Durchmischung an.

    Insofern ist es ein Wunder, dass alles Lebendige es geschafft hat, sich diesem Sog der kontinuierlichen Durchmischung zu entziehen. Der Physiker Erwin Schrödinger hatte in seiner erstmals 1944 veröffentlichten Schrift „Was ist Leben“ den Nachweis erbracht, dass jede Zelle, jeder Organismus, jedes lebende System in der Lage ist, aus Energie kontinuierlich eine innere Ordnung aufzubauen, also Strukturen und Beziehungsgefüge als „Informationen “ hervorzubringen und aufrechtzuerhalten, mit deren Hilfe es dem betreffenden Lebewesen gelingt, dem ständigen drohenden Zerfall zu begegnen. Aus der neueren Physik wissen wir, dass Lebewesen – weil es sich hier um einen „unendlichen“ Prozess der Selbsterhaltung handelt – dabei eine Dimension betreten, in der sie die Gesetzte der Physik (denen man üblicherweise eine universelle Gültigkeit zuordnet) aushebeln und Muster nach eigenem Duktus erzeugen können. Die Physiker arbeiten hier tatsächlich an einer gänzlich neuen Sichtweise. Im letzten Jahrhundert hatte sich die Vorstellung durchgesetzt, dass sämtliche Ereignisse dieser Welt durch so etwas wie „Naturgesetze“ verursacht werden und beschreibbar sind. Dies trifft für die Gesetzte der Himmelsmechanik ziemlich genau zu. Heisenbergs Unschärferelation hat diese Annahme bereits nachhaltig erschüttert. Aber erst die neuere Physik legt nahe, dass Lebewesen eigene Geometrieformen erzeugen, die Fluchtpunkte zu potentiell neuen Struktur-, Funktions- und Verhaltensmustern ausprägen, die jenseits der durch klassische physikalische Gesetze beschriebenen Welt zu verorten sind. Erstaunlich dabei ist, dass dies mit minimaler oder sogar nahezu keiner Energiezufuhr, gewissermaßen als kreativer Gestaltungsakt geschieht. Das ist eine bis dato noch völlig unübliche Sichtweise.

    Alles Leben »schöpft« seine Kreativität aus dem unerschöpflichen Potential der »unbestimmten Ordnung« des hochfrequenten Sonnenlichtes und erzeugt dabei zunehmend komplexer werdende, hochorganisierte Struktuen. Es handelt sich dabei um einen sich selbst organisierenden Prozess, der ausgerichtet ist auf eine Minimierung des zur Aufrechterhaltung  der Struktur und Funktion des jeweiligen lebenden Systems erforderlichen Energieaufwandes. Deshalb ist für alle Lebensformen das Energiesparen langfristig die entscheidende Voraussetzung ihres Fortbestandes. Das gilt für jede Zelle, für jedes Eichhörnchen und jeden Ameisenstaat. Auch die Funktionsweise unseres Körpers und sogar unseres Gehirns ist auf die Minimierung des Energieverbrauchs ausgerichtet. „Inneren Schweinehund“ nennen wir diesen Energiesparmodus, in dem sich jeder und jede Kurzsichtige am wohlsten fühlt.

    Was aber hat es mit der Vorstellung der Begrenztheit der Ressourcen tatsächlich auf sich? Richtig ist ja, dass uns die Sonne kontinuierlich mit Energie versorgt. Dennoch muss die Erde diese Energie aber auch wieder abstrahlen, damit sie sich nicht unendlich aufheizt. Im Detail zeigt sich dabei, dass die Sonne sehr hoch geordnetes, kurzwelliges Licht erzeugt. Es wird seit Jahrmilliarden zunächst von den Cyanobakterien und später von den Pflanzen durch den Prozess der Photosynthese genutzt, um die für sich selbst und für alle anderen Lebewesen erforderliche Energie in Form von Glucose und der daraus gebildeten Kohlehydrate bereitzustellen.  Es sind also letztendlich die Pflanzen, die alle Tiere und uns Menschen mit der für das Überleben erforderliche Energie versorgen. Ohne ausreichende Glukoseversorgung können Pflanzen und Tiere auch keine Eiweiße und Fette herstellen. Gleichzeitig entsteht bei der Photosynthese auch Sauerstoff. Die Cyanobakterien, Grünalgen und Pflanzen haben durch ihre Freisetzung von Sauerstoff unsere Atmosphäre ja genaugenommen erst geschaffen. Ohne sie hätte die Vielfalt pflanzlicher und tierischer Lebewesen auf unserem Planeten niemals entstehen können. Auch uns Menschen gäbe es dann nicht. Wir hätten weder Sauerstoff zum Atmen noch Nahrung zum Essen.

    Weshalb fallen wir nicht in tiefster Ehrfurcht vor diesen Lebensspendern auf die Knie? Warum erschaudern wir nicht angesichts der Erkenntnis, wie untrennbar alles Lebendige auf dieser Erde miteinander verbunden ist? Wie konnten wir verlernen, die Einzigartigkeit jedes Schlehengebüsches, jedes Apfelbaumes, jedes Schmetterlings, jeder Haselmaus und jedes Menschen zu bewundern und zu bestaunen? Weshalb fließen uns nicht die Tränen der Rührung über die Wangen, wenn wir einem Gänseblümchen begegnen, das sich mit all seiner Kraft durch den Asphalt des Seitenstreifens einer Straße hindurchgekämpft hat? Warum lassen wir zu, dass unsere Kinder die Photosynthese und den Elektronentransport in den Chloroplasten auswendig lernen, ohne diese natürlichen Zusammenhänge zu verstehen und sich von diesem überall in der Natur beobachtbaren Entfaltungsprozess des Lebendigen berühren zu lassen?

    Durch Nutzung unseres kognitiven Potentials ist es uns Menschen gelungen, die sich aus dem 2. Hauptsatz der Wärmelehre ergebende Notwendigkeit zur Minimierung des eigenen Energieverbrauchs auszuhebeln. Dank ihres Verstandes haben es Menschen nicht nur geschafft, sich Energieressourcen anzueignen, die von anderen Lebewesen aufgebaut werden, sie haben auch gelernt, die von ihnen in Vorzeiten geschaffenen fossilen Energiereserven anzuzapfen und für ihre Aktivitäten zu nutzen. Solange diese Energie in ausreichenden Mengen verfügbar war, mussten die Menschen ihr Zusammenleben nicht auf eine Minimierung des dazu erforderlichen Energiebedarfs ausrichten. Im Gegenteil! Weil sie bei der Beschaffung von Energieressourcen so erfolgreich waren, hatten sie genug und konnten es sich leisten, ihr Zusammenleben so enorm energieaufwändig zu gestalten, wie das noch heute der Fall ist: voller unnötiger Konflikte, mit Mord und Totschlag, Überfällen und Unterdrückung, ständigen Kriegen und einer Wirtschaft, die als einziges Ziel die Selbsterhaltung durch fortwährendes Wachstum anstrebt. Kein Wunder also, dass sich seit der Sesshaftwerdung vor etwa 10 000 Jahren der Energieverbrauch pro Kopf um den Faktor 500 vergrößert hat.

    Damit sind wir beim zentralen Aspekt der Menschwerdung angelangt. Die von den Primaten herausgebildete und vom Menschen weiterentwickelten „individualisierte Gemeinschaften“ als soziale Organisationsform ermöglichte eine bisher nicht genauer betrachtete »Unbestimmtheit«, die letztlich auch den Weg zur menschlichen Kreativität und zur Erfindung der Sprache und damit für unsere kulturellen und techologischen Leistungen ebnete. Das gemeinsame Handeln in solchen Gemeinschaften konnte deshalb entstehen, weil unsere Vorfahren ihr Verhalten im Kontext des größeren Ganzen einer reflektierten Gruppenkommunikation entwickelten: die Übernahme individueller Verantwortung wurde getragen von einem gegenseitigen Füreinander-Da-Sein. Wahrscheinlich haben Umweltereignisse wie über Jahrzehntausende andauernde Eiszeiten diesen Zusammenhalt noch weiter befördert.

  1. Was spielt sich gegenwärtig ab?
    Seit der Seßhaftwerdung bis zum heutigen Zustand der industriellen Welt hat sich der globale Energieverbrauch um den astronomischen Faktor von 2 Mio. erhöht. Die Nutzung fossiler Energiequellen ermöglichte all das, was wir heute als „Fortschritt“ bezeichnen. Zwangsläufig kam es zur Herausbildung zunehmender wechselseitiger Abhängigkeiten, und die bewirkten eine vorübergehende Stabilität vor allem in den wirtschaftlich besonders erfolgreichen Gesellschaften. Der Preis dafür war eine wachsende Abhängigkeit von fortwährendem Wachstum.  Außerdem wurde die bemerkenswerte Vielzahl neuer Erfindungen und technologischer Innovationen nur von einem Teil der Menschheit hervorgebracht und genutzt. Eine sinnstiftende Teilhabe der Mehrheit der Mitglieder am Ganzen der Gemeinschaft ging verloren. Sie wurde von einem Weltbild und einer Ökonomie verdrängt, die das Wachstum, den Konsum, und damit den steigenden Energieverbrauch bis in jede einzelne Handlungsentscheidung prägte. Je mehr das Gefühl von Verbundenheit verschwand, desto inflexibler wurde dieses System und desto stärker kam es zur Anhäufung astronomischer Reichtümer bzw. »Energievorräte« in den Händen einzelner Vertreter unserer Spezies. So entstand ein Feuer, das wir selbst aufrechterhalten. Es stabilisiert sich ausschließlich durch weiteres Nachlegen von Brennstoff. Genau deshalb braucht und erzeugt unsere auf Wachstum eingestellte Gesellschaft ständig kriegerische Auseinandersetzungen.

    Unterstützt wird unser gegenwärtig noch immer auf Wachstum und Konkurrenz ausgerichtetes Weltbild von den klassischen Naturwissenschaften. Für sie spielt die  analytische Zerlegung und objektive Beschreibung  der beobachtbaren Phänomene eine entscheidende Rolle. Mit Hilfe der so gewonnenen Erkenntnisse werden hochleistungsfähige Maschinen konstruiert, Flüge zum Mond durchgeführt, Atombomben gebaut und lernfähige Computer produziert. Getragen von diesem Geist konzipiert die moderne Ökonomie alles als wertmäßig erfassbares Objekt: von den Warengütern über die Produktionsprozesse bis hin zu den Werktätigen: alles wird als Kostenfaktor beschrieben. Auch der Mensch wird zu einem effektiv nutzbaren, manipulierbarem Objekt.

    Die Grundlage dafür bildet die Vorstellung, dass der Wert von allem exakt berechnet werden kann. In diesem Bild hat die Subjekthaftigkeit des Menschen, seine Würde und damit damit auch die menschliche Freiheit keinen Platz.  Sogar in der Philosophie wird inzwischen die Meinung vertreten, dass unser Denken und Handeln naturgesetzlich vorausbestimmt sei. Der Einwand, dass es auch so etwas wie „außerphysikalische Verursachungen“ unseres Denkens geben müsse, wird als „unwissenschaftlich“ abgelehnt.

    Wir befinden uns mitten in einem fundamentalen Wandel, der alle Lebensbereiche betrifft. Er ist  so global wie der Klimawandel und beeinflusst jeden Aspekt des Lebens: politische, soziale und wirtschaftliche Bereiche, die Umwelt, Institutionen, die Art und Weise, wie wir leben, wie wir unsere Beziehungen gestalten, unsere Arbeit verrichten, sogar wie wir denken und fühlen.

    Die Frage ist nicht, ob wir in diesen grundlegenden Wandel eingebunden sind, sondern ob wir noch in der Lage sind, ihn zu gestalten? Alles, was nicht dem Wohl des Ganzen dient und die Verbundenheit mit der Natur und unseren Mitbewohnern auf diesem Planeten stärkt, erzeugt viel zu große Reibungsverluste. Die können wir uns angesichts der Begrenztheit natürlicher Ressourcen nicht mehr lange leisten. Deshalb wird all das bisher zur Schau gestellte Unaufrichtige, die Egozentrik, die Masken, die Bullshit-Jobs und andere Formen der Ressourcenverschwendung zu einer Gefahr für den Fortbestand unserer Gesellschaft. Der notwendige globale Wandel ist längst in Gang. Er zwingt uns zu bedingungsloser Aufrichtigkeit uns selbst gegenüber und verlangt von uns die Fähigkeit, unsere bisherigen Vorstellungen und Überzeugungen mit kritischem Abstand zu betrachten. Es geht darum, endlich zu bewussten Gestaltern unseres eigenen Lebens und des Zusammenlebens mit anderen Lebewesen zu werden.

    Zu den individuellen Symptomen dieses in Gang kommenden Wandels zählt eine sich ausbreitende Ratlosigkeit und Resignation, innere Unausgeglichenheit, kontinuierliche Sorgen und Ängste und die damit einhergehende verstärkte Anfälligkeit für psychische und körperliche Erkrankungen. Viele bemerken, dass Sie ungeduldiger sind, leichter reizbar oder sich aus sozialen Kontakten zurückziehen. Immer mehr Menschen stellen fest, dass ihre lebendigen Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Der alte Lebensstil wird als sinnentleert wahrgenommen. Konsum erweist sich zunehmend als ungeeignete Ersatzbefriedigung. Auf gesellschaftlicher Ebene tritt dieser Wandel immer deutlicher in Form von  Verteilungskämpfen,  nationalen und internationalen Konflikten, wachsendem Extremismus, totalitären Regierungen, Verarmung und anwachsenden Flüchtlingsströmen zutage. Die wachsende Instabilität in allen Bereichen des Lebens wird uns jeden Tag in den Medien vor Augen geführt.

    Der Grund-Baustein des Neuen ist die Wiederentdeckung unserer Verbundenheit. Die alte Weltanschauung basiert auf Trennung. Aus ihr ist die Art und Weise erwachsen, wie wir die Welt betrachten, wie wir die Ereignisse des Lebens interpretieren und wie wir sie bewerten. Dabei sind über Generationen hinweg Vorstellungen des Voneinander-Getrennt-Seins entstanden und bis heute in Form entsprechender Überzeugungen, Einstellungen und Haltungen fest in den Gehirnen der meisten Menschen verankert worden.

  1. Was ist zu tun?
    Auch wenn wir diesen bevorstehenden Wandel jetzt schon beschreiben können, werden wir allzu leicht wieder in alte Denk- und Verhaltensmuster zurückgeworfen. Hilfreich wäre es,  einander bewußt zu machen, dass alles Lebendige diesem Prinzip der Minimierung des zu seiner Erhaltung erforderlichen Energieverbrauchs folgen muss. Die Pinguine, der Vogelflug, auch der Aufbau und die Erhaltung jedes Ameisenhaufens folgt diesem grundlegenden Prinzip. Nur wir Menschen haben es auf der Suche nach kurzfristigen Lösungen sträflich verletzt. Kein Wunder also, dass uns jetzt die langfristigen Folgen unserer Kurzsichtigkeit eine Krise nach der anderen bescheren. Es sind Zeichen des Zerfalls. Aber unser komplexes und zeitlebens lernfähiges Gehirn hat sich ja nicht herausgebildet, um uns zu hilflosen Opfern der von uns selbst geschaffenen Verirrungen und Verwicklungen zu machen.  Wir verfügen über ein Gehirn, dessen neuronale Verknüpfungen jederzeit umgebaut werden können. Wer sich auf der Suche nach kurzfristigen Erfolgen und Gewinnen in allzu energieaufwändige Lösungen verwickelt hat, kann sich daraus auch wieder befreien. Erst ein solcher Entwicklungsprozess ermöglicht anschließend auch die Entfaltung der in jedem einzelnen Menschen aber auch in jeder menschlichen Gemeinschaft angelegten Potentiale. Denn ebenso wie wir genetische Anlagen besitzen, die mehr Möglichkeiten bieten als tatsächlich genutzt, also exprimiert werden, kommen wir mit einem Gehirn zur Welt, das sich weitaus komplexer und vernetzter herausbilden könnte als das bei verwickelten Menschen der Fall ist.

    Doch bereits die Vorstellung, dass es im Verlauf des Evolutionsprozesses um die Entfaltung von Potenzialen und nicht um die Herausbildung spezieller Fähigkeiten geht, passt einfach nicht in das Weltbild einer auf Ressourcennutzung fokussierten, von Wettbewerb und Sektion geprägten Kultur. Wer glaubt, um sein Überleben oder um seine Daseinsberechtigung kämpfen zu müssen, kann sich nicht um seine Potentialentfaltung kümmern, geschweige denn um die von anderen Menschen. In unserem Kulturkreis ist das Anheizen von Wettbewerb, das Erzeugen von Leistungsdruck, von Angst und Stress eine beliebte und immer wieder eingesetzte Strategie, um letzte Ressourcen zu mobilisieren und schwierige Situationen zu überstehen. Die damit zu erreichende Erfolge sind allerdings nur kurzfristig. Langfristig führen sie zu immer stärkeren Verwicklungen. Dann lässt sich durch noch mehr Druck nicht noch mehr Leistung erzeugen.

    Menschen sind eben keine Maschinen. Menschen haben Bedürfnisse, und wir alle kommen mit zwei seelischen Grundbedürfnissen auf die Welt. Dem nach Verbundenheit einerseits und dem nach Autonomie, eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, also nach Freiheit andererseits. Wenn diese beiden Grundbedürfnisse nicht gestillt werden können, bleiben die betreffenden Personen Bedürftige – als Kinder, als Jugendliche, auch noch als Erwachsene. Solche Menschen haben ein Problem und sie richten ihre gesamte Aufmerksamkeit und ihr Bemühen darauf aus, es auf irgendeine Weise zu lösen. Manche lernen dabei sehr gut, andere für Ihre Zwecke und Absichten zu benutzen. Andere machen sich selbst zum Objekt ihrer Anpassungs- und Optimierungsbestrebungen. In beiden Fällen kommt es dabei zu Verwicklungen, die das Denken, Fühlen und Handeln der betreffenden Personen so sehr einschränken, dass keine weitere Entfaltung der in ihnen angelegten Potentiale mehr möglich ist. Dazu müssten sie sich zunächst aus den in Ihrem Gehirn und ihren Beziehungen entstandenen Verwicklungen befreien, sich also entwickeln.

    Wir sind derzeit Zeugen des irrwitzigen Versuchs ein gesellschaftliches System zu stabilisieren, das seit Generationen das natürliche Grundprinzip der Minimierung des zu seiner Aufrechterhaltung erforderlichen Energieaufwandes verletzt. Die chinesische Regierung versucht das mit einer langfristig ausgelegten zentralen Steuerung sowohl der Wirtschaft wie auch der Bevölkerung. Solange es der Zentralregierung gelingt, den Zusammenhalt der Bürger mittels strenger staatlicher Überwachung und Kontrolle aufrecht zu erhalten, wird dieses Gesellschaftssystem noch eine Zeitlang funktionieren und auch weiter expandieren.

    Das von Putin verkörperte russische Modell ist zwar ähnlich angelegt, aber deutlich stärker korrumpiert und damit auch anfälliger gegenüber äußeren Störungen. Das weiß Putin offenbar und deshalb greift er gegenwärtig zum letzten Mittel zur Stabilisierung des in Russland herrschenden Gesellschaftssystems und beschreitet den Weg der offensiven Kriegsführung.

    Was kann unser westliches Gesellschaftssystem dem entgegenhalten außer fortwährend seine moralischen Überlegenheit zu betonen? Läßt sich eine mit der Verfolgung einer Vielzahl von Partikularinteressen beschäftigte und dabei immer weiter zerfallende Gesellschaft mit moralischen Appellen zusammenhalten? Im Prinzip schon, aber nur dann, wenn diese moralischen Maßstäbe im konkreten Handeln der maßgeblichen Führungspersonen tatsächlich zum Ausdruck kommen. Bei wie vielen Eltern, Erziehern und Lehrpersonen, bei wie vielen Unternehmern, Politikern und Lobbyisten, bei wie vielen Journalisten, Meinungsbildnern und Influencern, bei wie vielen selbsternannten Moralaposteln ist das aber tatsächlich der Fall? Wie vielen von all diesen „Führungskräften“ ist es gelungen, sich aus ihren erfolgsgebahnten Verwicklungen zu befreien?

    Es ist noch viel zu tun, packen wir es an, bevor uns die Puste in Form der für die Aufrechterhaltung all dieser Verlogenheiten erforderlichen Energie ausgeht!