Buchmanuskript – Wege aus der Angst

Das Buch erscheint bei Vandenhoeck & Ruprecht Anfang Oktober 2020.

Für alle, die sich schon jetzt einen Eindruck davon verschaffen wollen, stelle ich in den nächsten Wochen einige Abschnitte als Leseproben vor (siehe unten).

Für alle, die mehr über den aktuellen Bezug dieses Buches zur Corona-Krise erfahren möchten, habe ich auf der Website des Verlages » besonders interessante Aspekte aus dem Buchmanuskript im Hinblick auf die durch diese Krise ausgelösten Ängste kommentiert.

Damit Amazon & Co nicht noch mehr Profite einstreichen, freue ich mich, wenn möglichst viele Interessierte direkt beim Verlag bestellen.

Leseprobe: Wege aus der Angst
Über die Kunst, mit der Unvorhersehbarkeit des Lebens umzugehen

Ankündigungstext
Mit unserem plastischen, zeitlebens lernfähigen Gehirn müssen wir erst herausfinden, worauf es im Leben ankommt. Deshalb sind und bleiben wir Suchende. Aber allzu leicht können wir uns auf dieser Suche nach einem glücklichen und sinnerfüllten Leben auch verirren, als Einzelne ebenso wie als ganze Gesellschaft. Sobald wir zu spüren beginnen, dass wir auf Abwege geraten sind, bekommen wir Angst. Und das ist gut so. Die Angst ist unser wachsamster Begleiter. Sie ermöglicht es uns, aus Fehlern zu lernen. Ohne Angst können wir nicht leben.

Mit seiner langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet der Angstforschung geht der Neurobiologe Gerald Hüther in diesem Buch der Frage nach, wie sich diese, unser Leben schützende Funktion der Angst mit unserer Sehnsucht nach einem angstfreien Leben vereinbaren lässt. Seine überraschende Antwort: Menschen können auch lernen, berechtigte Ängste zu ignorieren. Sie können sogar die Erfahrung machen, dass sich eine tief in ihnen spürbare, durchaus berechtigte Angst durch eine andere, vordergründiger ausgelöste und besser kontrollierbare Angst überlagern lässt. Um bestimmte Ziele zu erreichen, sind wir Menschen in der Lage, die Angst sowohl zu unterdrücken wie auch zu verstärken – nicht nur bei uns selbst, sondern noch viel wirkmächtiger bei anderen.

Das Schüren oder Beschwichtigen von Angst ist also gezielt zur Durchsetzung eigener Interessen und Absichten einsetzbar. Diese Instrumentalisierung der Angst macht Menschen abhängig und manipulierbar, beraubt sie ihrer Freiheit. Deshalb beschreibt Gerald Hüther in diesem Buch auch nicht, wie wir uns von der Angst befreien, sondern was wir tun können, um nicht zu Getriebenen der von anderen Menschen oder Interessengruppen geschürten Ängste zu werden.

Es ist das gesellschaftspolitisch brisanteste Buch, das Gerald Hüther bisher veröffentlicht hat. Es erklärt nicht nur, weshalb so viele Menschen nichts tun, um das Überleben unserer Spezies auf diesem Planeten angesichts der vielen, real existierenden Bedrohungen zu sichern. Es macht auch verständlich, weshalb bereits die bloße Vorstellung von der Gefährlichkeit eines Virus uns Menschen in Angst versetzt und zu willfährigen Befolgern behördlich verordneter Rettungsprogramme macht.

Gliederung

Einleitung: Weshalb ich dieses Buch für Sie geschrieben habe…

  1. Weshalb es in bedrohlichen Situationen so hilfreich ist, dass die Angst den ganzen Körper erfasst
  2. Wie uns die Angst vor Bedrohungen schützt und uns hilft, aus unseren Fehlern zu lernen
  3. Was sich hinter dem Phänomen der Angst verbirgt
  4. Wovor wir Angst haben
  5. Wie unsere Lösungen zur Bewältigung der Angst strukturell im Gehirn und in der Gesellschaft verankert werden
  6. Weshalb das Schüren von Angst die wirksamste Strategie ist, um Menschen gefügig zu machen
  7. Was unsere Widerstandskraft gegenüber ansgsteinflößenden Manipulationsversuchen stärkt
  8. Weshalb die Angst unser Wegweiser in die Freiheit ist

Fazit: Was ich mir wünsche…        

 

Leseprobe aus dem 1. Kapitel
Weshalb es in bedrohlichen Situationen so hilfreich ist, dass die Angst den ganzen Körper erfasst

Ja, es stimmt. Angst macht uns hilflos, wir fühlen uns wie gelähmt, es schnürt uns die Kehle zu, das Herz rast, die Knie beginnen zu zittern, kalter Schweiß tritt auf die Stirn und die Haare – die wenigen, die wir Menschen im Vergleich zu den Affen noch haben – stehen uns zu Berge. Als ob der Gedanke an das unerwartete und scheinbar unlesbare Problem, in das da auf uns zukommt. Menschen nicht schon bedrohlich genug wäre, spielt nun auch noch der ganze Körper verrückt. So gesellt sich zur ersten Angst vor dem Verlust nun allzu leicht noch eine Zweite: Die vor dem, was jetzt in unserem und mit unserem Körper geschieht. Recht leicht zu verstehen ist die Botschaft dieser ersten Angst. Lässt sie uns doch so eindringlich spüren, dass unser Leben auf bedrohliche Weise ins Wanken gerät, wenn etwas geschieht, was wir so nicht erwartet hatten. Aber weshalb gibt es auch noch diese andere? Und was will die uns lehren?

Die Angst ist kein angenehmes Gefühl und der Rückfall in archaische Notfallmuster der Verhaltenssteuerung ist kein beglückender Zustand. Deshalb sucht jeder Mensch in einer solchen Situation nach Lösungen, die dazu beitragen, ihm diese Erfahrung künftig zu ersparen. Meist wird dann eine der beiden Möglichkeiten gewählt: entweder man verändert die Verhältnisse, die die Angst auslösen und versucht so, die Welt und die anderen Menschen an sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse anzupassen. Oder man verändert sich selbst und versucht sich und seine eigenen Bedürfnisse an die jeweils herrschenden Verhältnisse so anzupassen.

meist gelingt dann auch das Eine oder das Andere… 

Erfolgserlebnis nennt man das, und ohne solche Erfolgs- und Aha- Erlebnisse wäre das Leben grau und eintönig. Weil die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig auch noch zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen führt, wird man bei der Bearbeitung solcher und ähnlicher Herausforderungen auch noch immer besser. Aus dem anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und von diesen kommt man dann später oft nur schwer wieder herunter. Wer also Probleme immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise zu lösen versucht, sitzt allzu leicht fest und gerät in Angst und Panik, wenn eine Situation entsteht, für die innovative Lösungsstrategie gefunden werden müsste.

Vor allem solche Personen, die bisher extrem erfolgreich bestimmte Strategien eingesetzt haben, um alles, was ihnen Angst macht, unter Kontrolle zu halten und zu beherrschen (auch sich selbst), verlieren auf diese Weise allzu leicht den Kontakt zu ihrem Körper. Oft betrachten sie ihn sogar als ein Instrument, das es zu kontrollieren gilt und das optimiert werden muss, um die von ihnen angestrebten Ziele zu erreichen. Je länger und je erfolgreicher solche Menschen auf diese Weise unterwegs sind, desto stärker verlieren sie das Gefühl für ihren eigenen Körper. Sie werden gewissermaßen taub für die dort generierten Signale. Und es sind dann zwangsläufig vor allem solche Menschen, die äußerst große Mühe haben, den beispielsweise mit einem Verlust einer von ihnen geliebten Person einhergehenden Kontrollverlust zu ertragen. Die dadurch ausgelösten körperlichen Reaktionen machen ihnen Angst, aber diese Angst wird nun nicht durch das konkrete Ereignis, sondern durch die ihnen so fremd gewordenen Reaktionen ihres eigenen Körpers ausgelöst. Hier hilft langfristig nun all das nicht mehr weiter, was sie normalerweise bisher immer wieder erfolgreich eingesetzt hatten: Verdrängung, Ablenkung, Aufregung, auch nicht noch mehr Arbeit oder Urlaub. Solche Personen müssten lernen, die hinter dieser Angst verborgene Botschaft zu verstehen: Sie müssten sich mit dem Umstand anfreuden, dass sich im Leben nicht alles kontrollieren lässt. Oder positiver: sie müssten die Demut wiederentdecken, die darin besteht, das Leben bisweilen auch einfach so anzunehmen wie es ist.

Beides kann sich zumindest eine zeitlang als geeignet erweisen, um solche angstauslösenden Diskrepanzen zwischen der eigenen Erwartungshaltung und den eigenen Kompetenzen und der realen Welt zu vermeiden. Nur wenigen Menschen gelingt eine dritte Form der Veränderung, die sich als Bewusstseinswandel manifestiert. Auf dieser Stufe wird weder eine Veränderung der Verhältnisse noch des eigenen Verhaltens als wichtigste Voraussetzung zur Überwindung der Angst betrachtet, sondern eine andere Bewertung des im Außen erlebten Geschehens im eigenen Inneren angestrebt. Grundlage dieser neuen Bewertung ist eine veränderte Haltung, eine andere Einstellung der betreffenden Personen gegenüber dem Leben und dem, worauf es im eigenen Leben wirklich ankommt. Hier geht es also eher um das Wiederfinden von etwas, was man angesichts von Leistungsdruck und Erfolgsstreben oder auch durch eingefahrene Gewohnheiten und Alltagsroutinen verloren hat. 

So erweist sich also die Angst als eine in unserem Gehirn und in unserem Körper ausgelöste Reaktion, die uns zu einer eigenen Weiterentwicklung zwingt. Erfolgserlebnis nennt man das, und ohne solche Erfolgs- und Aha- Erlebnisse wäre das Leben grau und eintönig. Weil die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig auch noch zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen führt, wird man bei der Bearbeitung solcher und ähnlicher Herausforderungen auch noch immer besser. Aus dem anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und von diesem kommt man dann später oft nur schwer wieder herunter. Wer also Probleme immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise zu Lösen versucht, sitzt allzu leicht fest und gerät in Angst und Panik, wenn eine Situation entsteht, für die innovative Lösungsstrategie gefunden werden müsste.

 

Leseprobe aus dem 2. Kapitel
Wie uns die Angst vor Bedrohungen schützt und uns hilft, aus unseren Fehlern zu lernen

Genau das unterscheidet uns ja so grundsätzlich von den Tieren: Im Gegensatz zu ihnen wird unser Verhalten nicht mehr von angeborenen, fest im Hirn verankerten und durch entsprechende Auslöser in Gang gesetzte Verhaltensweisen bestimmt. Wir müssen erst lernen, was wir wann zu tun und zu lassen haben. Deshalb verpaaren wir uns nicht nur im Frühjahr, wenn der Testosteronspiegel ansteigt. Deshalb müssen wir nicht sofort nach etwas Essbarem suchen, wenn der Magen zu Knurren beginnt. Deshalb müssen wir auch nicht ständig unser Revier markieren oder wie ein Hahn herumkrähen, damit andere wissen, wo wir zu Hause sind und uns dort in Ruhe lassen sollen.

Indem wir Menschen zunehmend besser lernen, unsere eigene Lebenswelt nach unseren Vorstellungen zu gestalten und diese Vorstellungen aber von unseren Erfahrungen in dieser so geschaffenen Lebenswelt bestimmt werden, bekommen aber auch wir ein zunehmend schwieriger werdendes Problem: Die von den Mitgliedern einer Familie, eines Dorfes, einer Stadt, eines Kulturkreises nach ihren Vorstellungen geschaffenen Lebensbedingungen stabilisieren und reproduzieren dieselben Vorstellungen, nach denen sie auch schon bisher ihre jeweilige Lebenswelt gestaltet hatten. Die betreffende Gemeinschaft schwimmt dann sprichwörtlich „in der von ihr selbst gekochten Suppe“. Solange sich nichts ereignet, was diese, nach ihren Vorstellungen gestalteten Welt durcheinanderbringt und in Frage stellt, sind die Mitglieder solcher Gemeinschaften fest davon überzeugt, sie hätten alles im Griff. Es gibt dann für sie weder einen Grund, an der Gültigkeit der bisher von ihnen umgesetzten Vorstellungen zu zweifeln noch die nach diesen Vorstellungen geschaffenen Lebenswelt in Frage zu stellen. In ihren Augen sind sie mit völlig richtigen Vorstellungen auf einem völlig richtigen Weg und auch genau in die richtige Richtung unterwegs.

So empfindet das jede und jeder Einzelne und darin bestärken sich auch alle gegenseitig. Jede und jeder Einzelne und damit auch die jeweilige Gemeinschaft wird aufgrund der Starrheit ihrer Vorstellungen zunehmend unflexibel. Gelingt es ihnen nicht, diese Vorstellungen zu öffnen, ereilt sie das gleiche Schicksal wie es auch schon all jene tierischen Vorfahren ereilt hat, die an der Unveränderbarkeit der ihr Verhalten bestimmenden genetischen Anlagen gescheitert sind und die – weil wir Menschen ihre bisherige Lebenswelt zu sehr verändern – auch heute noch aussterben. 

Zwar können Menschen eine Zeitlang versuchen, ihre Vorstellungen und ihre danach gestaltete Lebenswelt aufrechtzuerhalten, indem sie sich von all dem, was sie in Frage stellt, abgrenzen, zurückziehen oder sich in einem entlegenen Winkel verstecken. Sie können sich auch gegenseitig beschwichtigen oder sich mit anderen Beschäftigungen ablenken. Und sie können auch versuchen, all das zu bekämpfen, was ihre bisherigen Vorstellungen und Überzeugungen bedroht. Aber auf Dauer gelingen wird ihnen das ebensowenig, wie allen an der Starrheit ihrer genetischen Anlagen und der von ihnen festgelegten unflexiblen Verhaltensweisen gescheiterten Tiere.

Angst bekommen wir am häufigsten immer dann, wenn wir erleben müssen, dass unsere Vorstellungen davon, wie wir leben wollen, was unser Leben ausmacht und was wir für ein glückliches Leben brauchen, sich nicht verwirklichen lassen. Dann haben wir das Gefühl, dass der Boden, auf dem wir stehen, unter unseren Füßen wegrutscht. Das macht Angst und treibt manche Menschen sogar in die Verzweiflung. Alles, was sie bisher gemacht und geschaffen haben, wofür sie sich mit aller Kraft eingesetzt und gekämpft haben, was ihrem Leben bisher Halt, Orientierung und Sinn geboten hatte, bricht dann wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Das ist schrecklich. Davor, dass ihnen genau das zustoßen könnte, haben die meisten Menschen allergrößte Angst. Und dennoch, auch hier: Wie sollte ein Mensch jemals zu der Einsicht gelangen, dass er sich mit seinen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, völlig verrannt hat?

Mit unserem plastischen, lernfähigen Gehirn sind und bleiben wir Menschen zeitlebens Suchende. Wir können nicht wissen, was richtig und was falsch ist. Wir müssen dazu eine Vorstellung herausbilden und es dann ausprobieren. Und natürlich können wir uns dabei irren, bisweilen sogar völlig verirren. Das gilt für jeden einzelnen Menschen, aber ebenso für eine ganze menschliche Gemeinschaft. Wenn wir auf solchen Irrwegen keine Angst bekämen, hätten wir auch keine Veranlassung, jemals nach einem anderen, geeigneteren Weg zu suchen.

 

Leseprobe aus dem 3. Kapitel
Was sich hinter dem Phänomen der Angst verbirgt

Jetzt wird deutlich, was alle Roboter und Automaten von lebendigen Wesen unterscheidet: Lebewesen sind in ihrem Inneren – und sogar bis hinab in ihre genetischen Anlagen – erschütterbar. Ihre innere Organisation ist destabilisierbar. Und in diesen brüchig gewordenen, fragilen, instabilen Zuständen eröffnet sich für ein Lebewesen die Chance, dass sich seine genetischen Programme, seine zellulären und körperlichen Regelmechanismen, und die dafür erforderlichen Strukturen auf eine andere, günstigere Weise herausgeformt, zusammengefügt und organisiert werden als bisher. Ein Lebewesen, das nicht nicht mehr in seinem Inneren zu erschüttern ist, lebt nicht mehr. Das funktioniert nur noch. Das kann sich nicht mehr selbst verändern. Nur noch Tätigkeiten ausführen und lernen, wie es die immer perfekter, immer schneller und immer effektiver ausführen kann – wie ein Automat.

Die wirklich großen Transformationsprozesse beginnen alle mit der schmerzlichen Einsicht, dass die Vorstellungen, denen Menschen bisher gefolgt sind und auf deren Grundlage sie ihr Leben gestaltet haben, unzutreffend und deshalb irreführend waren. Dieses Eingeständnis trifft uns als vermeintlich vernunftbegabte Wesen im Innersten, erschüttert unser Selbstbild, auch unser Weltbild. Aus dieser tiefen inneren Verunsicherung heraus öffnet sich dann aber bisweilen auch der Blick und bietet uns die Chance, uns selbst und die Welt, in der wir leben, mit anderen Augen zu betrachten. Manchmal erleben wir das, was wir dann plötzlich zu sehen beginnen, wie eine Offenbarung, und wir begreifen, dass der Zauber des Lebens nicht darin besteht, dass es funktioniert und Spaß macht. Dass wir mit unserem Dasein eingebettet und getragen sind im großen Fluss des Lebens, das sich selbst immer wieder neu organisiert, vielleicht ist es sogar zutreffender, wenn wir sagen „neu erfindet“.

Dass es dabei uns Menschen als eine Lebensform hervorgebracht hat, die zu verstehen in der Lage ist, dass das Leben von nichts und niemand gemacht, geschweige denn benutzt oder kontrolliert werden kann, ist nur schwer mit dem nackten Verstand begreifbar.„Selbstorganisation“ heißt das Zauberwort für dieses Wunder. Schon die Herausbildung des Universums, unseres Sonnensystems, unseres Planeten ist das sich fortwährend wandelnde materielle Ergebnis sich selbst organisierender Prozesse und Wechselbeziehungen. Und auch auf unserer Erde hat nicht irgendein Gott oder Geist das Leben und die Vielfalt lebendiger Lebensformen hervorgebracht. Alles hat sich von selbst so organisiert, wie es bis heute geworden ist. Auch wir Menschen mit unserem zeitlebens lernfähigen Gehirn sind aus diesem Prozess hervorgegangen. Aber diese Erkenntnis allein hilft uns nicht weiter, denn wenn sich etwas von selbst organisiert, kann dabei alles Mögliche herauskommen. Es muss also etwas geben, das diesen sich selbst organisierenden Prozess in eine bestimmte Richtung lenkt. Und so eine lenkende Kraft gibt es tatsächlich. Sie ergibt sich aus dem, was alle lebenden Systeme schaffen müssen, um den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik nicht zu verletzen: Energie sparen.

Für den Aufbau und die Aufrechterhaltung ihrer jeweiligen Strukturen und Leistungen brauchen alle Lebewesen ziemlich viel Energie, Pflanzen in Form von Lichtenergie, Tiere von Form der von Pflanzen erzeugten Glukose und der daraus hergestellten Kohlenhydrate. Nur wenn es gelingt, den zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung ihrer inneren Organisation erforderlichen Energieaufwand so gering wie möglich zu halten, können lebende Systeme ihren Fortbestand sichern. Das gilt für jede Zelle, jeden Organismus, auch für das Gehirn. Aber genauso für Gemeinschaften, also Familien, Vereine, Unternehmen, auch für ganze Gesellschaften und für jedes Ökosystem. Schafft es ein lebendiges System nicht, diese zur Aufrechterhaltung seiner Integrität und seiner Lebensfunktionen erforderliche Energie bereitzustellen, zerfällt es. Die in seinen Bestandteilen materialisierte Energie verteilt sich – gemäß dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik – dann wieder gleichmäßig im Universum.

Der Zustand, in dem eine Zelle, ein Organismus, eine Familie oder eine Gesellschaft nur geringste Mengen an Energie verbraucht, ist der, in dem alles, was dort abläuft, möglichst gut zusammenpasst. Im Gehirn ist das immer dann der Fall, wenn ältere Bereiche reibungslos mit jüngeren, die rechte Hemisphäre optimal mit der linken zusammenarbeiten, wenn das Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bilden, Erwartungen mit den Realitäten übereinstimmen, wenn nichts stört und man sich eng mit anderen, mit der Natur oder gar dem ganzen Universum verbunden fühlt. Diesen Zustand nennen die Hirnforscher „Kohärenz“. Jede Zelle im Gehirn, jedes neuronale Netzwerk und das gesamte Gehirn organisiert seine inneren Beziehungen immer wieder so, dass dieser wenig Energie verbrauchende, kohärente Zustand hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Was allen sich selbst organisierenden Prozessen also eine Richtung verleiht, in die sie dann auch von ganz allein gelenkt werden, ergibt sich aus der Notwendigkeit zum Energiesparen.

Der Energieverbrauch im Gehirn steigt dramatisch an, sobald wir nun auch noch zu Denken anfangen, ein Problem lösen müssen, Konflikte haben oder etwas Neues Lernen sollen. All das zählt daher nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen eines menschlichen Hirns. Es führt zunächst zu unangenehmen Gefühlen und schließlich sogar auf körperlicher Ebene zu einem Zustand von Erschöpfung. Das ist unangenehm, und das vermeiden wird deshalb lieber. Und wir haben ja auch alle ziemlich gut gelernt, wie das geht: durch Verdrängung, Ablenkung, Abspaltung, durch Weghören und Wegschauen, durch Abschalten, Verleugnen und was es da noch alles für Strategien zur Selbstberuhigung geben mag.

Es gibt ja immer irgendetwas, das uns stört, das nicht so recht zu unseren Erwartungen passt und unser Gehirn in einen inkohärenten Zustand versetzt. Weil das kein sehr angenehmer Zustand ist, beginnen wir dann nach einer Lösung für das neu entstandene Problem zu suchen. Sobald wir die gefunden haben, wird die im Gehirn entstandene Inkohärenz wieder etwas kohärenter. Das wiederum führt im Mittelhirn zu einer vermehrten Freisetzung von sogenannten neuroplastischen Botenstoffen, und die wirken so ähnlich wie ein Dünger und stimulieren das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Bildung von neuen Nervenzellkontakten in all jene Bereichen des Gehirns, die zur Lösung des Problems aktiviert worden sind. So wird alles, was wir tun und was dazu beiträgt, einen inkohärenten Zustand wieder etwas kohärenter zu machen – und damit Energie zu sparen – weiter ausgebaut, gestärkt und gefestigt. Das gilt auch für die in Form komplexer neuronaler Verschaltungsmuster im Frontalhirn herausgebildeten und verankerten Vorstellungen, die dazu beitragen, dass alles, was dort oben im Gehirn als eigene Erfahrungen abgespeichert worden ist, möglichst gut zusammenpasst.

Aber nicht jede Lösung, die wir gefunden haben, um eine sich in uns ausbreitende Inkohärenz wieder etwas kohärenter und damit energiesparender zu machen, ist auch eine langfristig tragfähige Lösung.