Liebe(r) Leser/in

Der Sommer geht allmählich zu Ende, die Ferien sind vorbei und die Schule fängt wieder an. Alles wird heute gemessen und evaluiert. Aber niemand hat bisher diejenigen gezählt, die dem, was in diesem neuen Schuljahr wieder auf sie zukommt, mit Bauchschmerzen entgegen sehn? Wie viele Kinder und Jugendliche werden das sein? Aber auch wie viele Eltern? Und nicht zu vergessen, wie viele Lehrerinnen und Lehrer? Von den Bildungspolitikern ganz zu schweigen.

Einigermaßen unbefangen, erwartungsvoll und froh, nun endlich in die Schule gehen und lernen zu dürfen, was es dort für sie zu lernen gibt, dürften wohl nur die Schulanfänger sein. Aber wie lange wird es wohl dauern, bis auch ihnen diese Freude vergangen ist?

Man braucht kein Hirnforscher zu sein, um zu begreifen, dass es nicht gut sein kann, wenn Kinder ihre angeborene Lust am Lernen, am eigenen Entdecken und Gestalten verlieren. Und das auch noch genau dort, wo sie doch eigentlich all das lernen sollten, worauf es im Leben ankommt.

Weshalb ist das so? Weshalb lassen wir zu, dass es so ist? Weshalb sorgen wir nicht dafür, dass sich das ändert? Ist uns gleichgültig, was in den Schulen mit unseren Kindern geschieht? Oder halten wir das insgeheim sogar für notwendig? Sollen sich unsere Kinder schon in der Schule an das gewöhnen, was später draußen im Berufsleben auf sie wartet? Durchhalten, durchboxen, Zähne zusammenbeißen, nicht lange nachdenken, keine dummen Fragen stellen, sich irgendwie durchmogeln, tun was getan werden muss.


Woran liegt es?

Klar, es gibt auch Schulen, in denen das nicht so ist, auf die sich die Schüler freuen, wenn die Ferien zu Ende sind. Aber weshalb ist das nicht überall so? Eigentlich müssten sich doch alle Eltern und alle Lehrer solche Schulen wünschen. Und die Schüler erst recht. Woran also liegt es, wer oder was ist dafür verantwortlich, dass noch immer so viele Schulen nicht das sind, was sie sein sollten: Lernwerkstätten für ein gelingendes Leben?

Auf diese Frage gibt es nur eine einzige Antwort. Um darauf zu kommen, ist es möglicherweise ganz gut, wenn man Hirnforscher ist. Es liegt nämlich nicht an den Schülern, nicht an den Eltern, nicht an den Lehrern oder Schulleitern und auch nicht an den für die Schule verantwortlichen Bildungspolitikern, sondern es liegt an den Vorstellungen, die sie alle in ihren Köpfen haben. Diese Vorstellungen, diese festen Überzeugungen und inneren Einstellungen davon, wozu die Schule da ist, wie sie zu funktionieren hat und worauf es dort ankommt, sind fest in den Gehirnen aller Beteiligten verankert. Diese Verschaltungsmuster müssten sich verändern, damit sich endlich auch das ändern kann, was sie hervorgebracht, gestaltet und stabilisiert haben: unser gegenwärtiges Schulsystem, mit seinen, wie heilige Kühe behandelten Begabungskonzepten, Auswahlkriterien, Unterrichtsformen, Leistungskatalogen und Bewertungsmaßstäben. Wie aber lassen sich solche fest im Hirn verankerten inneren Einstellungen und Überzeugungen verändern? Sicher nicht, in dem man den betreffenden Personen kluge Ratschläge erteilt. Auch nicht durch das in Aussicht stellen von Belohnungen oder die Androhung von Bestrafungen. Diese festen Vorstellungen und inneren Überzeugungen sind ja im Hirn aufgrund von Erfahrungen entstanden, die diese Personen im Lauf ihres Lebens gemacht und die ihnen selbst irgendwie weitergeholfen haben.

Deshalb sind diese Vorstellungen und Überzeugungen auch sehr stark an Gefühle gekoppelt und deshalb schmerzt es so sehr, sie loszulassen. Man kann sie nicht umdenken, man müsste sie "umfüllen". Und das geht nur, indem man eine neue, eine andere Erfahrung macht. Dazu aber kann man niemand zwingen oder überreden, dazu kann man die betreffende Person nur einladen, ermutigen und inspirieren.


Drei mögliche Ansätze

Die Vorstellung, dass Schule auch anders gehen könnte, müsste sich für sie irgendwie "gut anfühlen", müsste ihnen unter die Haut gehen, ihr Herz erwärmen, wie man so schön sagt. Mit der Frage, wie man das erreicht, beschäftige ich mich nun schon seit einiger Zeit, und jetzt zeichnen sich endlich die ersten Ansätze für eine Lösung ab.

Zu einem ist das der Versuch, das alte Begabungskonzept in Frage zu stellen, das ja gewissermaßen das theoretische Gerüst darstellt, auf dem unser gegenwärtiges Schulsystem aufgebaut ist. "Jedes Kind ist hoch begabt" heißt deshalb ein neues Buch, das ich zusammen mit dem STERN-Reporter Uli Hauser geschrieben habe und das jetzt erschienen ist. Ich bin sehr gespannt auf die Diskussionen, die es auslöst.

Der zweite Ansatz verfolgt das Ziel, dem gegenwärtigen Lehrerbild als "Wissensvermittler" etwas gegenüberzustellen, eine Zusatzqualifikation für Pädagogen in Form eines Masterstudienganges aufzubauen, der einen Abschluss als Potenzialentfaltungscoach zum Ziel hat. Pädagogen mit einem solchen Abschluss verstehen sich als "Schatzsucher für die Entdeckung" und als "Hebammen" für die Entfaltung der in jedem Schüler angelegten besonderen Talente und Begabungen. Im Herbstsemester nächsten Jahres soll dieser Studiengang starten.

Der dritte Ansatz ist der Versuch, eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung zur Veränderung der bisherigen Lern- und Beziehungskultur in Schulen zu initiieren (www.schule-im-aufbruch.de). Ob das gelingt, hängt davon ab, wie viele Lehrer und Eltern und Schüler sich dieser Bewegung anschließen und sich vor Ort, also in ihrer jeweiligen Schule daran machen, eine Lern- und Beziehungskultur aufzubauen, die künftig niemandem mehr Bauchschmerzen bereitet und die alle Schüler und auch ihre Lehrer einlädt, ermutigt und inspiriert, all das wirklich zur Entfaltung zu bringen, was in ihnen steckt.

Alles darf in Schulen passieren, nur eines nicht mehr: dass Kinder und Jugendliche ihre Lust am Lernen, am eigenen Entdecken und Gestalten verlieren. Auch wenn dieser neue Geist nicht gleich in allen Schulen Einzug hält, es wird sich nicht verhindern lassen, dass er sich ausbreitet.

Meine Prognose: in sechs Jahren wird es Schulen, wie wir sie kennen, nicht mehr geben. Wenn alle, die diesen Newsletter lesen, dabei mithelfen, geht es vielleicht sogar noch schneller.

Herzlichst

Ihr Gerald Hüther